Experiment findet fehlendes Puzzlestück zur elektrostatischen Aufladung von Materialien
Geladene Entdeckung: Physiker haben eine seit Jahrhunderten rätselhafte Frage zur elektrostatischen Aufladung geklärt – dem Effekt, der uns beim Griff an die Türklinke einen Schlag versetzt. Ihr Experiment enthüllte erstmals, welcher Faktor über die Art und Stärke der Kontaktelektrizität bei nichtmetallischen Materialien entscheidet. Demnach spielt die Kontakt-Vorgeschichte dafür eine entscheidende Rolle – Materialien haben ein „Kontaktgedächtnis“, wie das Team in „Nature“ berichtet. Was aber steckt dahinter?
Schon vor 2.500 Jahren entdeckten antike Gelehrte, dass sich bestimmte Materialien bei Reibung aufladen – beispielsweise Bernstein. Vor rund 250 Jahren erkannte der Universalgelehrte Benjamin Franklin dann, dass hinter dieser elektrostatischen Aufladung ein Ladungsaustausch der beteiligten Materialien steckt. Diese Kontakt- oder Reibungselektrizität ist auch dafür verantwortlich, dass wir beim Griff an eine Türklinge manchmal einen Schlag bekommen oder dass unsere Haare zu Berge stehen, wenn wir sie mit einem Gummiballon reiben.
„Die Kontaktelektrizität ist auch in vielen Bereichen der Natur essenziell, von der Aufladung der Gewitterwolken über das Pollensammeln der Insekten bis zur Akkretion von Staub bei der Entstehung von Protoplaneten“, erklären Juan Carlos Sobarzo vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA). Triboelektrische Generatoren können mithilfe dieses Effekts Strom erzeugen.

Chaos in der Aufladungsreihe
Umso erstaunlicher ist es, dass eine entscheidende Frage zur Kontaktelektrizität von Nichtmetallen bis heute nicht geklärt ist: Was bestimmt, wie stark sich ein bestimmtes Material auflädt und ob es bei Kontakt mit einem zweiten positiv oder negativ wird? Zwar legen Experimente nahe, dass eine tribonelektrische Reihe gibt, in der solche Materialien anhand des Vorzeichens und der Stärke der ausgetauschten Ladung geordnet werden könnten, von der positivsten bis zur negativsten.
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Merkwürdigerweise ergeben Tests aber ganz verschiedene Reihenfolgen trotz gleicher Materialien. Diese Diskrepanzen treten sowohl zwischen verschiedenen Forschergruppen auf als auch bei simpler Wiederholung des Versuchs durch dieselben Wissenschaftler. „Es schien lange Zeit ein totales Chaos zu sein, zu verstehen, wie Isoliermaterialien Ladung austauschen: Die Experimente sind unvorhersehbar und können manchmal völlig zufällig erscheinen“, sagt Koautor Scott Waitukaitis vom ISTA.
Was bestimmt das triboelektrische Verhalten?
Aber warum? Um herauszufinden, was hinter diesem Chaos steckt, führten Sobarzo und sein Team nun ein Experiment mit Blöcken desselben Materials durch, des siliziumhaltigen Polymers Polydimethylsiloxan (PDMS). Zunächst schien das Ergebnis vielversprechend: „Ich nahm einen Satz Proben, die ich zur Hand hatte, und zu meiner Überraschung sah ich, dass sie sich beim ersten Versuch in einer Reihe anordneten“, berichtet Sobarzo. Doch bei Wiederholung der Kontakttests veränderte sich die Reihung jedesmal auf scheinbar unvorhersehbare Weise.
„An diesem Punkt hätten wir das Handtuch werfen können“, sagt Sobarzo. „Ich beschloss jedoch, es am nächsten Tag mit demselben Probensatz noch einmal zu versuchen.“ Nach unzähligen weiteren Versuchen entdeckten die Physiker schließlich die Lösung des Rätsels: Der Grad der Aufladung hing davon ab, ob und wie oft die Polymerblöcke bereits zuvor die Tests durchlaufen hatten. Die häufiger genutzte Probe lud sich dabei durchweg stärker negativ auf als eine weniger häufig getestete.
Material hat ein „Kontaktgedächtnis“
Das aber bedeutet: „Der Kontakt selbst kann die Parameter beeinflussen, die die Kontaktelektrizität hervorrufen. Mit anderen Worten: Unser Material ‚erinnert‘ sich an seine Kontaktgeschichte“, schreiben die Forschenden. Wenn sie dies berücksichtigten, konnten sie aus den PDMS-Proben zuverlässig eine vorhersagbare triboelektrische Reihe bilden.
„Sobald wir angefangen haben, die Kontakthistorie der Proben zu verfolgen, ergaben vermeintliche Zufälligkeit und Chaos tatsächlich einen Sinn“, sagt Waitukaitis. Doch wie ist dieses „Kontaktgedächtnis“ zu erklären? Um das herauszufinden, untersuchte das Team nun die Polymeroberfläche von unberührten und benutzten Blöcken mithilfe von Röntgenstreuung, Röntgen-Spektrometrie und Rasterelektronenmikroskopie.
Was steckt dahinter?
Die Analysen enthüllten subtile Unterschiede in der Rauigkeit der Oberflächen: „Es zeigte sich ein überraschendes Merkmal – kontaktierte Oberflächen sind in höheren räumlichen Maßstäben glatter“, berichten Sobarzo und seine Kollegen. Diese winzigen Veränderungen der Oberflächen liefern damit eine Erklärung für das neuentdeckte „Kontaktgedächtnis“ bei der elektrostatischen Aufladung. Auf welche Weise die Glättung der Oberflächen die Aufladung beeinflusst, ist jedoch noch unklar.
Dennoch sehen die Physiker in ihren Erkenntnissen einen wichtigen Fortschritt bei der Lösung des jahrhundertelangen Rätsels zur Kontaktelektrizität. „Wir haben es geschafft, einen starken Hinweis auf einen schwer fassbaren Mechanismus zu liefern, der für unser Verständnis von Elektrizität und Elektrostatik grundlegend ist“, sagt Sobarzo. Sollte sich das neuentdeckte „Kontaktgedächtnis“ auch bei andere Materialien bestätigen, könnte dies die bisherigen Widersprüche klären und so den Weg zu einer endgültigen Aufklärung dieses elektrostatischen Phänomens ebnen.
„Nicht mehr hoffnungslos“
„Wir haben gezeigt, dass die Erforschung der statischen Elektrizität nicht mehr so hoffnungslos ist“, sagt Waitukaitis. Das Kontaktgedächtnis der Materialen bedeutet aber auch, dass ihr Verhalten unter Alltagsbedingungen weiterhin schwer vorhersagbar ist – weil wir die Kontaktgeschichte nicht kennen. „Vielleicht wird es niemals möglich sein, die Kontaktelektrizität in realen Szenarien vorherzusagen“, schreibt Daniel Lacks von der Case Western University in den USA in einem begleitenden Kommentar.